Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag für Baden-Württemberg von Mai 2021 haben wir festgehalten, dass wir ein Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen aufsetzen.
Das wollen wir nun konkret umsetzen. Dafür habe ich ein Fachgespräch organisiert: Gemeinsam mit Akteur*innen, die mit diesem Thema viel zu tun haben, wollte ich ins Gespräch kommen und gemeinsam herausfinden, was wir bedenken müssen, wenn wir in Baden-Württemberg ein solches Landesaufnahmeprogramm auf den Weg bringen möchten.
Am 18. Februar 2022 waren mit dabei:
Erik Marquart, Mitglied des Europäischen Parlaments, Fraktion Die Grünen/EFA
Rebecca Einhoff, UNHCR Deutschland
Stephan Neher, Oberbürgermeister von Rottenburg am Neckar, als Vertreter der aufnahmebereiten Kommunen in Baden-Württemberg
Ines Fischer, Asylpfarrerin in der Evangelischen Kontaktstelle für Asylarbeit Reutlingen, als Vertreterin der Seebrücke Baden-Württemberg.
An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fachleute und auch an die rund 100 Interessierten, die sich bei dem Termin mit zugeschaltet haben. Viele von ihnen engagieren sich selbst beruflich oder privat in der Flüchtlingshilfe. Ihre Fachkunde und ihr Interesse haben auch die guten Fragen gezeigt, mit denen sie sich an der Diskussion beteiligt haben.
Die derzeitige Lage für Geflüchtete an den Außengrenzen der EU – und nicht nur dort – ist katastrophal. Fluchtrouten werden immer gefährlicher. Das berichtet Erik Marquart, der sich auch immer wieder selbst vor Ort auf den griechischen Inseln einen Eindruck verschafft. Länder wie Griechenland fühlen sich von der EU alleine gelassen. Sie greifen deshalb zu harten, abschreckenden Mitteln – vor allem ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Aus der Sicht von Erik Marquart wäre ein Landesaufnahmeprogramm ein wichtiges Signal. Damit soll sichtbar werden, dass es durchaus Menschen, Länder, Kommunen gibt, die Geflüchtete aufnehmen wollen. So wird den Erstankunftsländern gezeigt, dass sie mit Geflüchteten nach den Regeln des Rechtsstaates umgehen können, ohne Angst haben zu müssen, mit ihnen alleine gelassen werden. Erik Marquart hat deutlich gesagt, was in Europa erreicht werden muss: Europa muss dahin kommen, dass es als Stärke angesehen wird, Menschen auf der Flucht zu helfen. Es soll sich finanziell nicht lohnen, entgegen der europäischen Werte zu arbeiten.
Mich freut es zu sehen, wie groß die Bereitschaft vieler Kommunen und der Zivilgesellschaft in Baden-Württemberg ist, Menschen hier bei uns aufzunehmen.
Das von uns in den Koalitionsvertrag geschriebene Landesaufnahmeprogramm ist eine gute Möglichkeit für uns als Bundesland, selbst aktiv zu werden und Flüchtlinge aufzunehmen. Grundsätzlich ist für die Einreise ins Gebiet der Bundesrepublik Deutschland der Bund zuständig. Landesaufnahmeprogramme sind etwas, was auch Bundesländer tun können – indem sie ihre Bereitschaft signalisieren, selbst gezielt Menschen aufzunehmen. Trotzdem brauchen sie die Zustimmung des Bundes dafür. Das heißt: Selbst, wenn ein Land ein solches Programm beschließt, kann dieses dann erst umgesetzt werden, wenn die Bundesregierung dem auch zustimmt.
Es gibt schon einige Beispiele, die zeigen, wie gut es funktionieren kann. Baden-Württemberg hat beispielsweise 2014 in einem solchen Aufnahmeprogramm yezidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufgenommen – Menschen, die dort aus IS-Gefangenschaft befreit worden waren. Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg haben in den vergangenen Jahren ebenfalls Aufnahmeprogramme beschlossen, jeweils in unterschiedlicher Ausgestaltung. Schleswig-Holstein beispielsweise hat 2021 die Möglichkeit des Familiennachzugs für Afghan*innen über die Kernfamilie hinaus erweitert.
Das zeigt schon eine der zentralen Entscheidungen, die wir treffen müssen, wenn wir ein Landesaufnahmeprogramm auflegen wollen: Für wen soll es gelten? Darauf hat im Gespräch auch Rebecca Einhoff hingewiesen. Es sei wichtig, Schutzkriterien zu entwickeln, in denen klar definiert ist, welche Personengruppen aufgenommen werden sollen. Das UNHCR selbst orientiere sich an der Vulnerabilität. Dafür wurde eigens ein Schutzkatalog erstellt.
Ein weiterer wichtiger Punkt für Klärungen vorab, laut Rebecca Einhoff: Wer gehört zu einer Familie? Denn das betrifft später die Auswahl der aufzunehmenden Personen ebenso wie einen möglichen Familiennachzug. Ich persönlich finde es spannend, wie das UNHCR den Begriff Familie definiert: Es geht über die Kernfamilie hinaus. Das zentrale Kriterium ist dort: soziale Abhängigkeit. Dafür braucht es nicht unbedingt Blutsverwandtschaft. Familien werden im Familienverbund aufgenommen, also auch volljährige Kinder oder Nichten und Neffen. Die Maxime dort: „je weniger Familientrennung, desto besser“.
Was es natürlich auch dringend braucht, damit ein Aufnahmeprogramm gelingt: Geld. Also personelle, finanzielle und administrative Ressourcen, die das Land Baden-Württemberg dafür zur Verfügung stellt. Das scheint zwar selbstverständlich, trotzdem war der Hinweis von Rebecca Einhoff im Gespräch wichtig. Uns in der Landespolitik muss bewusst sein, dass wir für unsere Ziele auch entsprechende Mittel in die Hand nehmen müssen.
Stephan Neher, Oberbürgermeister der Stadt Rottenburg am Neckar, machte deutlich, was er sich vom Land wünscht: Unterstützung – und besser einbezogen zu werden. Er vertrat im Fachgespräch die Initiative „Sichere Häfen“. Das ist ein deutschlandweites Bündnis von Kommunen, die sich bereit erklärt haben, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. In Baden-Württemberg gehören derzeit 40 Kommunen dazu. Stephan Neher sieht ein Landesaufnahmeprogramm in Einklang mit dem Programm der Kommunen. Explizit betont hat er im Gespräch, dass sich beides seiner Ansicht nach ergänzen und parallel existieren sollte. Wichtig sei für die Gemeinden, dass das Land sie in die Planungen mit einbezieht. Außerdem wünscht er sich, dass ehrenamtliche Unterstützer*innen auf keinen Fall mit den Aufgaben alleine gelassen werden. Stephan Neher sagte klar: Es braucht eine Mischung aus Haupt- und Ehrenamtlichen im Engagement für Geflüchtete.
Auch die Seebrücke befürwortet ein Landeaufnahmeprogramm. Ines Fischer sagte: Die Erfahrung zeige ja, wie sehr sich die Zivilgesellschaft für geflüchtete Menschen engagiert, sowohl in der Stadt als auch im ländlichen Raum. Deswegen hat sie die große Hoffnung, dass ein Landesaufnahmeprogramm auch den politischen Diskurs voranbringen kann – und zwar zugunsten der geflüchteten Menschen. Wie Stephan Neher machte auch sie deutlich: Ehrenamtliche Helfer müssen dringend vom Land unterstützt werden. Vermeiden muss man bürokratische Hindernisse und finanzielle Belastungen. Klare Botschaft ans Land: Auf keinen Fall dürfe am Integrationsmanagement gespart werden. Was rechtliche Aspekte angeht, trat Ines Fischer dafür ein, dass es möglich sein muss, Aufenthaltserlaubnisse unkompliziert zu verlängern.
Vielen Dank an alle, die am Fachgespräch „Humanitäre Aufnahme“ teilgenommen haben: den Podiumsgästen für ihre Expertise und den Zuhörer*innen für ihre klugen Fragen und ihr Engagement in der Praxis. Ich habe das als sehr konstruktiv und wertschätzend im Umgang wahrgenommen. Es freut mich, zu sehen, dass es allen Beteiligten um die Sache geht – nämlich die Hilfe für Menschen auf der Flucht.